Gastkommentar
Die Existenz einer wirtschaftsliberalen Volkspartei: Darum wurde die Schweiz lange beneidet – und jetzt? Ein Abbild politischer Bedeutungslosigkeit. Mit dem Duo Keller-Sutter und Cassis im Bundesrat ist diese Tradition an ihrem Tief- und wohl auch Endpunkt angelangt, schreibt Adriano Lucatelli.
12. August 2025 • Adriano Lucatelli

Es hätte eine unerwartete Sternstunde des Freisinns werden können: Die neuen amerikanischen Importzölle lasten auf dem Schweizer Selbstverständnis schwerer als so ziemlich alle Krisen der vergangenen 30 Jahre.

Wie ich vergangene Woche dargelegt habe, hat Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter (FDP) dieses heikle Dossier an sich genommen und dabei im entscheidenden Moment – dem Telefonat mit dem «Dealmaker» US-Präsident Donald Trump – versagt.

Was dann kam, war ähnlich peinlich: Zuerst liess die Bundespräsidentin ausrichten, die Verantwortung liege im Wirtschaftsdepartement ihres Bundesratskollegen Guy Parmelin (SVP), um dann gemeinsam mit diesem hektisch nach Washington zu reisen – wo anstelle eines klärenden Gesprächs mit dem Präsidenten eine diplomatische Plauderei mit Aussenminister Marco Rubio wartete, die mehr wie eine Ausrede wirkte als wie eine Lösung.

Der gmögige Weinbauer Parmelin

Schräg mutet das Treffen auch deshalb an, weil Keller-Sutters Bundesrats- und Parteikollege, Aussenminister Ignazio Cassis, offenbar in seinen eigenen Interaktionen mit dem amerikanischen Aussendepartement das Zoll-Thema nie angeschnitten hatte. Es geht sogar das Gerücht, wonach Cassis’ Departement den raschen Abschluss eines Deals mit den Amerikanern im Mai hintertrieben hatte, um die EU nicht zu verärgern.

Nun sollen – je nachdem, wen man fragt – der gmögige Weinbauer Parmelin, die Pharma-Manager oder der Partners-Group-Mitgründer Alfred Gantner die Kastanien aus dem Feuer holen.

Der Freisinn steht bis auf die Knochen blamiert da.

Seine Spitzenexponenten sind auf dem Absprung (Thierry Burkart), unsichtbar (Ignazio Cassis) oder – um in die amerikanische Terminologie zu wechseln – «toast» (Karin Keller-Sutter).

Keller-Sutters zweiter unglücklicher Auftritt

Erschwerend kommt bei Keller-Sutter hinzu, dass es bereits ihr zweiter unglücklicher Auftritt in einer grossen Krise ist.

Beim Untergang der Credit Suisse ging die Politik unter Federführung Keller-Sutters den Weg des geringsten Widerstands, übergab die heisse Kartoffel in die Hände der UBS, akzentuierte damit die Too-Big-to-Fail-Problematik, brach infolgedessen eine neue Regulierungswelle für den Finanzplatz vom Zaun und kreierte mit einer unbedachten Aussage («this is not a bailout») milliardenschwere Haftungsrisiken für den Steuerzahler.

Frühere Titanen der FDP drehen sich im Grabe um: ein Ueli Bremi und Peter Spälti, die bis zu ihrem Rückzug aus dem Nationalrat 1991 für die Dreifaltigkeit standen, die nicht nur die FDP, sondern die Schweiz gross gemacht hatte: Wirtschaft, Politik, Armee.

Wo sind die FDP-Schwergewichte?

Mit einem derartigen Blend könnte man sicherlich auch heute Eindruck schinden in Washington. Aber wo sind sie, die FDP-Köpfe, die gleichzeitig in der Wirtschaft tonangebend sind? Ihr letzter Repräsentant im Bundesrat war, bereits deutlich blasser als die früheren machtvollen Nationalräte Bremi und Spälti, der Baumaschinen-Fabrikant aus Langenthal, Johann Schneider-Ammann, der dem Gremium von 2010-2018 angehört hat.

Auf Ebene der Parteipräsidenten setzte der Niedergang bereits deutlich früher ein. Nach der Urner Naturgewalt Franz Steinegger, ein ähnliches Animal Politique wie Toni Brunner bei der SVP, folgte mit Gerold Bührer von 2002 bis 2004 ein Wirtschaftsmann, der sich über Jahrzehnte in der Konzernleitung von Georg Fischer bewährt hatte.

Seither waren die FDP-Präsidenten: Kleingewerbler und Juristen, bei denen Positionen in der Wirtschaft – wenn überhaupt – auf das politische Amt folgen, und nicht umgekehrt.

Im Parlament hat heute von den FDP-Nationalräten nur noch Simon Michel auch als Unternehmer ein gewisses Gewicht, dessen Ambitionen aber einseitig in Richtung EU gerichtet sind.

Die FDP als Architektin des wirtschaftsliberalen Konsenses und damit auch des Erfolgs der Schweiz hat abgedankt. Die Lücke, die sie hinterlässt, ist gewaltig.

Adriano Lucatelli ist Unternehmer und Gründer des Zürcher Wealthtech-Unternehmens Descartes.