"Im Hintergrund stets die Fäden in der Hand"
Auf exakt 1200 Seiten begründet das Zürcher Bezirksgericht sein Urteil gegen Pierin Vincenz und fünf weitere Beschuldigte. Das sind die wichtigsten Argumentationslinien der Richter im zentralen Commtrain-Deal.
12. Januar 2023 • Beat Schmid

Das schriftliche Urteil umfasst exakt 1200 Seiten. Eigentlich hätte es schon im Sommer vorliegen müssen, doch das Gericht nahm sich Zeit. Herausgekommen ist ein Wälzer, der einen der wichtigsten Wirtschaftskriminalfälle der letzten Jahrzehnte ausleuchtet.

Das Urteil zeigt auf, wie der ehemalige Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz und fünf weitere Beschuldigte in den Jahren 2004 bis 2015 sich mit illegalen Firmentransaktionen bereicherten und bei den Spesen überbordeten. Das Bezirksgericht Zürich verurteilte die Beschuldigten im April zu mehrjährigen Haftstrafen.

Auf über 200 Seiten schildert das schriftliche Urteil, das Tippinpoint vorliegt, die Ausflüge ins Rotlichtmilieu und die Spesenexzesse. In der Begründung der verhängten Strafe ist unter anderem von “grenzenlosen Ausgaben” während einer der Reise nach Marrakesch und in zahlreichen Cabarets in der Schweiz die Rede.

Fünf Firmenakquisitionen

Auf weiteren 300 Seiten geht das Gericht auf illegale Unternehmenstransaktionen ein, an denen Vincenz, Stocker und weitere vier Beschuldigte beteiligt gewesen waren. Es geht um fünf Akquisitionen: Commtrain, Genève Crédit & Leasing, Investnet, Eurokaution und Arena Thun.

Den Anfang macht die Übernahme von Commtrain, einer kleinen Ostschweizer Firma, die Kreditkartenterminals vertrieb. Weil es sich um dem ersten Deal handelt, den Vincenz und Stocker zusammen durchzogen und weil darin Muster erkennbar sind, die sich in anderen Transaktionen wiederholten, beschränken wir uns hier auf diesen einen Fall.

Im Detail wird im Urteil nacherzählt, wie Pierin Vincenz und Beat Stocker in Kontakt zu dem Firmengründer kamen, wie sie eine Kooperation mit der Viseca /Aduno einfädeln, sich heimlich über eine eigens gegründete Finanzgesellschaft an Commtrain beteiligten und später die Firma mit einem Gewinn von 2,66 Millionen Franken an die Viseca/Aduno verkauften, wo sie als Verwaltungsratspräsident beziehungsweise CEO tätig waren.

Im Urteil gehen die Richter auf die Hauptverteidigungslinien der Beschuldigten ein. Vincenz und Stocker behaupteten, sie hätten sich bei den Deals passiv verhalten, sie hätten “at arm’s length" gehandelt, um Interessenkonflikte zu vermeiden. Sie stellten sich auch auf den Standpunkt, dass durch die verdeckte Beteiligung niemand zu Schaden gekommen sei.

"Im Hintergrund stets die Fäden in der Hand"

Im Urteil zum Commtrain-Deal heisst es dazu: “Es wird mit dieser Argumentation der beiden Beschuldigten im Wesentlichen geltend gemacht, dass die Interessen der Viseca bzw. Aduno im Rahmen der Transaktion stets gewahrt gewesen seien und das Geschäft für die Aduno letztlich auch erfolgreich gewesen sei, weshalb kein Anlass bestanden habe, die eigene Beteiligung am Zielobjekt offenzulegen.”

Das Gericht geht im Detail auf diese Argumentation ein. Weil es sich um eine entscheidende Stelle handelt, wird sie hier vollständig wiedergegeben:

“Es oblag indessen nicht den Beschuldigten, darüber zu entscheiden, unter welchen Umständen eine potentielle Interessenkollision offenlegungspflichtig ist. Vielmehr hatten sie den entsprechenden Konflikt zu melden, als die beiden Gesellschaften miteinander in geschäftlichen Kontakt getreten sind, was ihnen insoweit durchaus bewusst gewesen sein muss.”

“Die Beweiswürdigung hat denn auch ergeben, dass die Zurückhaltung des Beschuldigten Stocker auf Seiten der Viseca bzw. Aduno nur vordergründig war und er im Hintergrund stets die Fäden in der Hand behielt, um die massgeblichen Konditionen der Transaktion nach wie vor in seinem Sinne beeinflussen zu können. Zu diesem Zweck stimmte er sich mit dem Beschuldigten Vincenz ab und vertrat in der Folge auch dessen Ansichten. Eine solche Doppelrolle der Beschuldigten verlangt indes zwingend auch die Offenlegung der fremden Beteiligung, zumal wenn man sich im Verwaltungsrat an den Entscheidungen zu diesem Geschäft zu beteiligen gedenkt.”

“Es geht bei der Meldung von Interessenkonflikten und Beteiligungen denn auch nicht primär darum, inwiefern ein damit verbundenes Geschäft für das betroffene Unternehmen finanziell schädlich ist. Vielmehr schützt die den Organen diesbezüglich auferlegte Treuepflicht den unbeeinflussten Geschäftsgang und will damit sicherstellen, dass die Pflichtigen stets uneingeschränkt die (auch nichtfinanziellen) Interessen des eigenen Unternehmens in den Vordergrund stellen, weshalb die Argumentation des Beschuldigten Stocker betreffend den letztlich erfolgreichen Geschäftsgang insofern ins Leere läuft, und auch das Vorbringen des Beschuldigten Vincenz, dass die Commtrain später mit Gewinn an die Konkurrentin "SIX" habe weiterveräussert werden können in diesem Zusammenhang keine massgebliche Rolle zu spielen vermag.”

“Es muss den Beschuldigten Vincenz und Stocker somit klar gewesen sein, dass sie sich aufgrund ihrer doppelten Involvierung in den Transaktionsprozess in einem unauflösbaren Interessenkonflikt befanden, welchen sie der Viseca bzw. Aduno bereits frühzeitig hätten melden müssen.”

Der Commtrain-Deal diente Vincenz und Stocker als Blaupause für spätere Transaktionen, bei denen sie auf ähnliche Weise vorgingen.

Das Gericht lastet Vincenz an, dass er es bis heute unterlassen habe, “irgendwelche Bemühungen hinsichtlich einer Wiedergutmachung des Schadens zu tätigen”. Detailreich rechnet das Gericht vor, wie sich die Freiheitsstrafe von Vincenz bemisst. Wegen der “tendenziösen Medienberichterstattung” reduziert das Gericht das Strafmass um 9 Monate auf 45 Monate. Das sind 3 Jahre und 9 Monate.

Pierin Vincenz, Beat Stocker und die anderen Beschuldigten haben jetzt 20 Tage Zeit, um die Schuldsprüche vor dem Zürcher Obergericht anzufechten.

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