Die Talfahrt des Jahrhunderts
Im zweiten Teil unseres Rückblicks nennen wir die wichtigsten Finanz- und Wirtschaftsthemen des Jahres. Was interessierte, was bewegte am meisten? Klar, die Credit Suisse gehört dazu. Aber auch Themen wie Greenwashing und Nachhaltigkeit oder der FTX-Kollaps und seine Verbindungen in die Schweiz.
30. Dezember 2022 • Beat Schmid

CS – das Horrorjahr

Es ist noch nicht mal ein Jahr her, als António Horta-Osório als Verwaltungsrats-Präsident der Credit Suisse zurücktrat. Axel Lehmann löste ihn Mitte Januar an der Spitze der Bank ab. Heute ist die CS kaum wiederzuerkennen. Die Geschäftsleitung ist praktisch vollständig ausgetauscht. Der Aktienkurs brach um fast 70 Prozent von über 9 auf 2.80 Franken ein.

Kaum je in der jüngeren Geschichte hat der Schlingerkurs eines Schweizer Unternehmens dermassen die Schlagzeilen dominiert. Die CS befindet sich in dieser Hinsicht auf "Augenhöhe" mit Swissair oder UBS. Ein Blick ins Archiv der Schweizer Mediendatenbank zeigt: Die von Alfred Escher gegründete Bank war Thema in über 23’000 Artikeln. In über 5100 Beträgen kommen Credit Suisse und "Problem" gleichzeitig vor; in 2775 Artikeln die Wortkombination Credit Suisse und "Skandal". In 453 Beiträgen kommen der Name der Bank und "rekordtief" vor.

"Schreibt doch mal über etwas anderes", sagten CS-Mitarbeitende, mit denen ich mich in den vergangenen 12 Monaten regelmässig unterhielt. Doch dann brach bereits die nächste schlechte Nachricht über die Bank herein.

Ich wage hier eine (wenig riskante) Prognose: Die CS wird auch 2023 die Schlagzeilen beherrschen. Für die Bank und ihre Mitarbeitenden kann man nur hoffen, dass es nicht ganz so schlimm wird wie 2022. Allerdings lösen sich die Probleme nicht in Luft auf. Das Kernübel der Bank: Die hohen Kosten und die schrumpfenden Erträge werden auch nächstes Jahr verlustreiche Quartale bringen. Auf dieses Ungleichgewicht haben wir mehrfach hingewiesen.

Das erste Mal im Juli: Warum die CS-Aktie noch lange in der Espresso-Zone verharren könnte. In weiteren Beiträgen hier und hier.

Kritisiert haben wir auch, dass es die Bankspitze verpasst hat, der Öffentlichkeit zu erklären, dieses Jahr auf einen Bonus zu verzichten. Man kann den Eindruck nicht ganz abschütteln, die Bank will gar nicht für positive Schlagzeilen sorgen.

Die neue Strategie der Bank, wie sie umgesetzt wird – das vermag noch nicht zu überzeugen. Das zeigt sich ganz deutlich am Aktienkurs, der es nicht aus dem Kellerloch herausschafft. 2023 wird sich zeigen, ob die Bank unabhängig bleiben kann oder ob sie einen starken Partner braucht.

Der Krypto-Kater

Mit einem epochalen Kater hat auch die Krypto-Branche zu kämpfen. Der Kurs des Bitcoins krachte mit einem Minus von 65 Prozent ähnlich vehement zusammen wie die CS-Aktie. Die Stimmung einer ganzen Branche liegt im Keller. Vor einem Jahr noch herrschte Ekstase. 

Damals schickte sich die umtriebige Olga Feldmeier der Zuger Krypto-Plattform Smart Valor an, einen Börsengang an der Nasdaq in Stockholm zu wagen. Nur wenige Wochen später erlebte "Krypto-Queen" Feldmeier den ersten Taucher an der Börse. Inzwischen ist der Kurs der Aktien um über 80 Prozent gefallen; die Börsenkapitalisierung schrumpfte auf unter 10 Millionen Franken. 

Den absoluten Tiefpunkt erlebte die Krypto-Branche 2022 allerdings mit der FTX-Pleite, der Börsenplattform von Sam Bankman-Fried, dem in den USA eine langjährige Haftstrafe droht. Die Branche hatte damit ihren Lehman-Moment. Der Konkurs zieht Kreise bis in die Schweiz, wie Tippinpoint in verschiedenen Artikeln zeigte. Hier hatte die Plattform ein halbes Dutzend Tochterunternehmen, die jetzt abgewickelt werden oder für die ein Käufer gesucht wird. 

Auch hatten einige hiesige Finanzunternehmen zum Teil ein bedeutendes FTX-Exposure wie zum Beispiel der SwissRex Crypto Fund. Ein kleines Engagement ging auch die Luzerner Privatbank Reichmuth ein, die Vorsorgegelder im SwissRex-Kryptofunds anlegte. Eine Erkenntnis aus dem Kollaps ist, dass die Krypto-Branche unter einem ganz massiven Transparenz-Problem leidet.

Nachhaltiger Läuterungsprozesses

2022 markiert den Beginn eines Läuterungsprozesses im Bereich der Nachhaltigkeit. Ein erster Schockmoment für die Asset-Management-Industrie waren zweifellos die Greenwashing-Vorwürfe, die in Zusammenhang mit DWS ans Licht kamen. Nach einer Grossrazzia musste der Chef der Tochter der Deutschen Bank seinen Posten räumen. Das Bafin und das Bundeskriminalamt führen Ermittlungen wegen des Verdachts auf "Kapitalanlagebetrug".

Die Vorwürfe wurden nicht von aussen an die Branche herangetragen, sondern stammten aus dem Innern, im Fall von DWS von einer Whistleblowerin. Die Rolle eines "Nestbeschmutzers" übernahm auch Stuart Kirk, der bei HSBC Asset Management für den Bereich Responsible Investment zuständig war. In einer provokativen Rede sagte er, dass der Klimawandel kein so grosses finanzielles Risiko darstelle, wie das Behörden und Regulatoren behaupten würden. Diese würden die finanziellen Risiken überbewerten und "einander mit noch schrecklicheren Prognosen übertrumpfen". Kirk verlor seinen Job.

Seine Worte waren Wasser auf die Mühlen von republikanischen Politikern, die 2022 in den USA eine massive Kampagne gegen Finanzunternehmen starteten, die sich zu Netto-Null-Zielen bekannt haben. Im August setzte der US-Bundesstaat Texas eine Reihe von Finanzkonzernen auf eine Schwarze Liste, weil sie dem Erdölsektor "feindselig" eingestellt seien. Vom sogenannten Comptroller wurden auch Credit Suisse und die UBS auf die Liste gesetzt. Staatliche Stellen wie Pensionsfonds dürfen seither keine Geschäfte mit den Unternehmen abwickeln.

Insgesamt sind es rund 30 US-Bundesstaaten, die ähnliche Gesetze wie Texas schon eingeführt oder in Planung haben. Der Druck der Politik wirkt – die Allianzen der Finanzunternehmen, die mit ihren Anlagen etwas gegen den Klimawandel ausrichten wollen, werden brüchiger. Anfang Dezember stieg mit Vanguard der zweitgrösste Asset-Manager nach Blackrock aus der GFANZ-Allianz aus. Der Rückzug war eine grosse Blamage für Mark Carney und Michael Bloomberg, welche die GFANZ gemeinsam als Ko-Vorsitzende leiten. Insgesamt gehören der GFANZ und allen Sub-Organisationen über 450 Finanzinstitute an, die rund 150 Billionen verwalten.

Es ist nicht auszuschliessen, dass 2023 weitere Finanzunternehmen Vanguard folgen werden. Der Vanguard-Schock muss nicht schlecht sein. Viel zu viele Finanzunternehmen umhüllten ihre Finanzprodukte und Dienstleistungen mit einem grünen Mäntelchen, obwohl sie im Innern braun grundiert waren.

Die Branche selbst, Gerichte und Regulatoren werden 2023 hoffentlich für mehr Trennschärfe sorgen zwischen "nachhaltigen" und "nicht-nachhaltigen" Anlagen. Damit es den Anlegerinnen und Anlegern künftig einfacher fällt, zwischen Finanzanlagen unterscheiden zu können, die zwar ESG-Faktoren integrieren, aber deshalb noch nicht "nachhaltig" sind. Und solchen, die einen messbaren Impact erzielen wollen und deshalb als "grün" oder "nachhaltig" bezeichnet werden dürfen.