Steigende Rechtsrisiken
Früher war ESG höchstens ein mögliches Reputationsproblem. Inzwischen ist es auch ein rechtliches Thema und beschäftigt die Gerichte. Höchste Zeit für Unternehmen, sich eine ESG-Strategie zurechtzulegen.
4. Mai 2022 • Jean François Tanda

Am 26. Mai 2022 wird es ein Jahr her sein, dass ein Bezirksgericht in Den Haag ESG-Interessierte weltweit aus dem Häuschen brachte. Klimaaktivisten waren erfreut; kritische Stimmen rangen um Fassung. Das beweist: das Gericht in den Niederlanden hat Bahnbrechendes getan. Es hat Rechtsgeschichte geschrieben.

Auf Klage hin von «Freunde der Erde» und anderen Klimaschutzorganisationen hatte das Haager Bezirksgericht entschieden, der Mineralölkonzern Shell müsse seine CO2-Emission schneller und deutlicher reduzieren als ursprünglich geplant.

Auch wenn Shell den Entscheid an die nächste Instanz gezogen hat – es ist ein Präzedenzfall und dürfte nicht der letzte dieser Art gewesen sein. Die Gefahr für ein Unternehmen, per Gerichtsurteil zu mehr Klimaschutz gezwungen zu werden, ist real.

Unter Druck ist auch der Fondsanbieter DWS, eine Tochter der Deutschen Bank: Sowohl in den USA als auch in Deutschland ermittelt die Börsenaufsicht wegen des Verdachts auf Greenwashing. Die DWS habe den Umfang ihres Engagements in nachhaltigen Investments beschönigt. Unternehmen können also nicht nur wegen mangelnden Klimaschutzes belangt werden, sondern auch, wenn sie falsche Angaben zu ihrem Engagement machen.

ESG war lange Jahre ein Anwendungsfall für Soft Law – jetzt wird es zunehmend zu hartem Recht

Nebst Gerichtsverfahren droht Unternehmen auch Gefahr auf regulatorischer Ebene. Neue Gesetze sind allenthalben in Entstehung, sowohl auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene: Gegenvorschlag zur Konzernverantwortungsinitiative in der Schweiz. Loi de Vigilence in Frankreich. Modern Slavery Act in UK. Das niederländische Gesetz über die Sorgfaltspflicht bei Kinderarbeit. Oder auf europäischer Ebene: EU Directive on Non-Financial Reporting 2014. EU Sustainable Finance Disclosure Regulation 2019. EU Taxanomy Regulation 2020.

Das zeigt: War ESG lange Jahre ein Anwendungsfall für Soft Law – also von nicht verbindlichen Übereinkünften, Absichtserklärungen, Leitlinien – wird es zunehmend zu hartem Recht, gegossen in nationale und supranationale Gesetze und Verordnungen.

Somit werden Klimajugend und andere Gruppen in Zukunft noch mehr Handhabe haben, echte und mutmassliche Klimasünder vor den Kadi zu zerren. Die Konsequenz: Unternehmen benötigen dringend eine ESG-Strategie. Denn die ESG-Risiken für Unternehmen sind mannigfaltig, und sie steigen kontinuierlich an: Regulatorische Risiken, Haftungs- und Klagerisiken, Reputationsrisiken. Das Problem: Welche Strategie wählen?

Künftig dürfte es nicht mehr immer ausreichen, sich «nur» an das geltende Gesetz zu halten. Wer vorausschauend handelt, wird mehr machen wollen. Es gibt etwa zahlreiche ESG-Standards, nach welchen man sich richten könnte. Doch noch hat sich keines der Regelwerke durchgesetzt. An welchem Framework und welcher Organisation sich also orientieren? The International Framework? Sustainability Accounting Standards Board (SASB)? Global Reporting Initiative (GRI)? Uno Global Compact? Sustainable Development Goals (SDG) der Uno? Oder noch ein anderes Regelwerk?

Diskrepanz zwischen Worten und Taten als Einfallstor für Klagen

Jedes Regelwerk hat Vor- und Nachteile. Und wer Nachteile sagt, meint Angriffsflächen. Wo aber Angriffsflächen vorhanden sind, sind Klagen nicht ausgeschlossen.

Aus dem Beispiel Shell in den Niederlanden lassen sich wichtige Lektionen ableiten: Ein Einfallstor für Niederlagen vor Gericht ist eine Diskrepanz zwischen Worten und Taten. Das Bezirksgericht Den Haag hat sich in seinem Entscheid gegen Shell unter anderem darauf gestützt, dass Shell klare Ziele zu Corporate Social Responbsibility kommuniziert habe. Diese Ziele aber hätten sich weder in Planung noch in Finanzplanung niedergeschlagen. Es reicht also nicht, Pläne und Strategien zu entwickeln und zu Papier zu bringen. Sie müssen auch umgesetzt werden und sich beispielsweise in der Risikoprognose widerspiegeln. Wer viel verspricht, muss viel halten. Doch wer wenig verspricht, wird auch angegriffen.

Neue Gesetze, neue Klimaklagen, ein Dschungel an ESG-Regelwerken – wer in den Fokus gerät und in den Verdacht, ein Klimasünder zu sein, der kämpft sehr bald auch um seine Reputation. Für Medien ist das ein gutes Thema, Social Media wirken als weltweite Verstärker. Kein Wunder befürchten Unternehmen laut einer englischen Umfrage durch ESG-Klagen nicht nur allgemein einen Reputationsverlust, sondern – nebst Bussen und anderen Strafen – auch Probleme bei zukünftigen Finanzierungsrunden oder bei der Suche nach jungen Talenten auf dem Arbeitsmarkt.

Eine Klimaklage bedroht Marke, Goodwill und damit auch den Wert des Unternehmens. Darum ist es wichtig, auch Wert auf die Kommunikation zu legen: Transparente Erklärungen dazu, dass und warum diese oder jene Strategie verfolgt wird. Warum dieses oder jenes Regelwerk zugrunde gelegt wurde. Dass die Ziele ernsthaft verfolgt werden. Dass es Schwierigkeiten in der Umsetzung gibt.

Früher war ESG höchstens ein mögliches Reputationsproblem. Inzwischen ist es auch ein rechtliches Thema und beschäftigt die Gerichte. Das wiederum macht es zu einem noch grösseren Reputationsrisiko. Und das bedeutet: eine ernsthafte Gefahr für das Geschäft.

Jean François Tanda
Der Autor ist Wirtschaftsjurist und Managing Partner von Vanda Advisory AG, einer Strategie- und Kommunikationsberatung. Er hat über 20 Jahre in der Medienbranche gearbeitet als Jurist sowie als Investigativ- und Wirtschaftsjournalist bei SRF, Tamedia, Ringier und Axel Springer Schweiz. Er hat ausserdem in The Economist (UK), Die Welt (D) und im japanischen Magazin Facta publiziert. vandaadvisory.com