Strafverfahren gegen Blogger
Im US-Steuerstreit wurde das Bankgeheimnis tausendfach gebrochen – in der Causa Vincenz/Stocker wird es zum höchsten Gut erhoben.
23. Juni 2025 • Beat Schmid

Auf dem Golfplatz, in der Cafébar oder an der Biertheke: Zürcher Anwälte beschäftigt derzeit ein Thema besonders – das unzimperliche Vorgehen der Staatsanwaltschaft gegen das Onlinemedium Inside Paradeplatz. Ein halbes Dutzend Beamte stürmte die Redaktion des Blogbetreibers Lukas Hässig. Sie beschlagnahmten Handy und Computer sowie Notizbücher und Dokumente. Später durchsuchten sie auch das Privatdomizil des Journalisten.

«Eigentlich hätten sie Hässig auch in Untersuchungshaft stecken können», sagt ein Anwalt mit lakonischem Unterton. Der Journalist selbst machte die Razzia auf seinem Blog am Montag publik. Der Vorfall schlug international Wellen, sogar die «Financial Times» berichtete darüber. In der Schweiz aber blieb es auffällig ruhig im Blätterwald und in den Onlinespalten.

Auslöser war eine Anzeige im Umfeld des ehemaligen Raiffeisen-Chefs Pierin Vincenz und seines Vertrauten Beat Stocker. Hässig hatte 2016 über verdächtige Transaktionen der beiden berichtet, die über die Privatbank Julius Bär liefen. Die möglicherweise geleakten Daten betrafen keine anonymen Bankkunden, sondern Spitzenmanager, deren undurchsichtige Geschäfte zu Strafverfahren und Verurteilungen führten.

So wurde publik, dass Pierin Vincenz als Raiffeisen-Chef 2,9 Millionen Franken auf seinem Konto erhalten hatte – kurz nach einer umstrittenen Firmenakquisition. Diese Enthüllung löste zahlreiche Untersuchungen aus und brachte die Finanzmarktaufsicht auf den Plan. Es kam zu einer Strafanzeige, und in der Folge wurden Vincenz und sein Mitstreiter Beat Stocker wegen verschiedener Delikte angeklagt und erstinstanzlich verurteilt.

August 2026 vor Obergericht

Im August 2026 wird sich das Obergericht mit der Causa Vincenz/Stocker beschäftigen. Möglich ist, dass der zuständige Oberrichter keine Angriffsfläche bieten wollte. Die Beschuldigten können nun dem Gericht nicht vorwerfen, die Aufklärung der möglichen Bankgeheimnisverletzung nicht verfolgt zu haben, vermuten einige Juristen. Bereits vor Jahren kam es zu Ermittlungen der Staatsanwaltschaft in diesem Zusammenhang bei der Bank Bär. Allerdings verliefen die Nachforschungen im Sand. Ein offizielles Strafverfahren wurde mangels konkreter Anhaltspunkte nie eröffnet.

Jetzt soll plötzlich alles anders sein? Oder hat hier ein Gericht allein aus taktischen Gründen ein Strafverfahren angestrengt? Wenn das so wäre, nähme es damit erhebliche Kollateralschäden in Kauf. «NZZ»-Anwalt Simon Jakob spricht in einem Beitrag für das Fachportal Medialex von einem «chilling effect» auf die Medien. «Wenn investigativer Journalismus mit Hausdurchsuchung und Strafverfahren beantwortet wird, entsteht ein Klima der Einschüchterung. Dies gefährdet die öffentliche Kontrolle über Wirtschaft und Behörden», schreibt er.

4450 Kundendaten in die USA geliefert

Allein die Drohkulisse einer solchen Hausdurchsuchung könne investigative Arbeit massiv behindern. Zwar habe Hässig von seinem Siegelungsrecht Gebrauch gemacht – das heisst, dass nun das Zwangsmassnahmengericht prüfen muss, ob und welche Daten verwendet werden dürfen. Doch der Schaden ist bereits angerichtet. Wer will noch vertrauliche Informationen mit Journalisten teilen, wenn diese später direkt beim Staat landen?

Der Anwalt David Zollinger beurteilt den Vorgang als massiv überzogen. Der Strafrechtsspezialist sprach in einem Interview mit den Tamedia-Zeitungen von einem «fundamentalen Bruch mit den Prinzipien der Pressefreiheit». Zollinger kritisiert ein System, das nicht mehr zwischen öffentlichem Interesse und Datengeheimnis unterscheidet. Journalisten können bestraft werden – unabhängig davon, ob ihre Recherchen Missstände aufdecken.

Auch aus anderen Gründen erscheint die Verfolgung von Journalisten unverhältnismässig. In den Nullerjahren tobte der US-Steuerstreit. Im Jahr 2009 übergab die UBS nach monatelangen Verhandlungen eine Liste mit rund 4'450 Konten von US-Kunden an die US-Behörden. Dies geschah damals mit Wissen und Zustimmung der Schweizer Finanzmarktaufsicht (Finma) sowie des Bundesrates. Damit wurde das Bankgeheimnis durchbrochen – zum ersten Mal wurden Kundendaten von US-Bürgern an ausländische Behörden weitergegeben, um ein Strafverfahren abzuwenden. Doch niemand geriet deswegen ins Visier der Strafverfolgungsbehörden oder wurde vor Gericht gestellt, geschweige denn ins Gefängnis gesteckt.

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