ESG – ein Betrug?
In den USA, aber auch in der Schweiz gehen rechte Kreise gegen die angeblich linke Agenda von ESG vor. Aber auch aus der Finanzbranche wird die Kritik immer lauter.
30. Mai 2022 • Beat Schmid

Stuart Kirk löste eine Lawine aus, als er an einer Konferenz ESG scharf kritisierte. Als Mann vom Fach, als Head Responsible Investment bei HSBC Asset Management, haben seine Worte Gewicht. Er warf Zentralbankern und politischen Entscheidungsträgern vor, die Risiken des Klimawandels überzubewerten. “Unbegründete, schrille, parteiische, eigennützige, apokalyptische Warnungen sind immer falsch”, sagte er. Nein, der Klimawandel stelle kein finanzielles Risiko dar. Weil seine Aussagen den Positionen seines Arbeitgebers zuwiderlaufen, wurde Krik von HSBC-Konzernchef Noel Quinn kurzerhand suspendiert.

Kirk ist nicht der erste hochkarätige Kritiker, der aus dem Innern der Finanzbranche kommt und unverhohlen ESG infrage stellt. Das Kürzel steht für Finanzanlagen, die Umwelt-, soziale und Governance-Anliegen berücksichtigen. Ein prominenter Kritiker ist auch Tariq Fancy, der ehemalige Sustainability-Chef des Vermögensverwalters Blackrock. Er bezeichnete ESG als ein “gefährliches Placebo”. Die Wall Street würde Greenwashing betreiben, indem sie nachhaltige Investitionen zu reiner PR-Angelegenheit mache. Das lenke vom Problem des Klimawandels ab.

Für Desiree Fixler, ehemals Leiterin des Bereichs ESG beim Asset-Manager DWS, ist das Kürzel in die Bedeutungslosigkeit abgesunken. Fixler machte ihrem Arbeitgeber Greenwashing-Vorwürfe, weil er die Gelder nicht so investierte, wie er dies gegenüber den Anlegern vorgab. Sie wurde von DWS, die über 900 Milliarden Euro verwaltet und zur Deutschen Bank gehört, entlassen. Vor Gericht musste sie vor kurzem eine Niederlage in Zusammenhang mit ihrer Kündigung einstecken.

Ukraine-Krieg verschärft ESG-Identitätskrise

Die Debatte um ESG hat sich vor dem Hintergrund der jüngsten Krisen noch verschärft. Der Krieg in der Ukraine hat eine Reihe von Gewissheiten weggefegt. Waffenkonzerne, die einst auf den schwarzen Listen von ESG-Fonds standen, gelten jetzt als nachhaltig. Ebenso sind Investitionen in Gas- und Erdölprojekte wieder salonfähig, weil sie den Westen unabhängiger machen von Russland. Bis zum Kriegsausbruch waren auch viele nachhaltig deklarierte Anlagevehikel in russische Aktien oder Anleihen investiert – jetzt nicht mehr, weil nicht nachhaltig. Manche Exponenten argumentierten bereits, man müsse das Kürzel jetzt um den Buchstaben P ergänzen – P wie Politik.

Was gestern verteufelt wurde, gilt heute als heilig – und umgekehrt. ESG, so scheint es, lässt Anlegern alle Optionen offen. Das war auch schon vor dem Krieg so, als die EU die Atomenergie plötzlich für nachhaltig erklärte, ein Entscheid, mit dem sich links-grüne Kreise in Deutschland und der Schweiz sehr schwertun. Mit ständig ändernden Positionsbezügen macht es die ESG-Branche ihren Kritikern leicht.

Zum scharfen ESG-Kritiker mutierte auch Telsa-Chef Elon Musk. Der Grund war eine kürzliche Umschichtung im S&P 500 ESG Index. Musks Elektroautokonzern wurde wegen Rassismusvorwürfen aus dem Index gestrichen, während der Mineralölkonzern Exxon Mobil unter den zehn besten Firmen gelistet wurde. ESG sei ein Betrug, schimpfte Musk auf Twitter. Es werde von Pseudokriegern als Waffe gegen jegliche Diskriminierung eingesetzt.

Gegen den “Woke-Mob, der Amerikas Zukunft gefährdet”

Kritik übt auch der US-Unternehmer Vivek Ramaswamy, der das in Basel ansässige Pharmaunternehmen Roivant Sciences gründete. Vor kurzem kündigte er an, einen Fonds zu lancieren, der in Unternehmen investieren wird, die darauf fokussiert sind, “das zu tun, was sie am besten können – und nichts mehr”, wie er dem “Wall Street Journal” sagte (Artikel bezahlpflichtig).

Ramaswamy, der den Job als CEO bei Roivant abgab, um das Buch Woke Inc. zu schreiben, will mit Strive, wie das Unternehmen heisst, sogenannten “excellence Capitalism” fördern. Ramaswamy wird von dem libertären Milliardär und Paypal-Gründer Peter Thiel und Hedge-Fonds-Manager Bill Ackman unterstützt. "Die Mehrheit der Amerikaner möchte, dass sich Unternehmen aus der Politik heraushalten", glaubt Ramaswamy.

In den USA versuchen Politiker, den Spiess umzudrehen. Der Gouverneur von Florida, Ron DeSantis, will dem Disney-Konzern weitreichende Sonderrechte entziehen, weil sich der CEO des Unterhaltungskonzerns auf Druck von LGBTQ-Organisationen gegen das sogenannte "Don't say gay"-Gesetz ("Sag' nicht homosexuell") stellte. Die Regelung verbietet Debatten über sexuelle Orientierung und Identität an Grundschulen.

Das Vorgehen von DeSantis und anderer Politiker soll als Warnung an Unternehmen verstanden werden, sich nicht in Gesetzgebungsprozesse einzumischen. “Ich kandidiere für den US-Senat, um den Woke-Mob zu bekämpfen, der Amerikas Zukunft gefährdet”, erklärte etwa der Ex-Chef des Hedgefonds Bridgewater David McCormick, der in Pennsylvania für den freigewordenen Sitz im US-Senat kandidierte. In seinem Werbespot wetterte er “gegen die Wokeness, die unsere Schulen, die Grossunternehmen und die Medien erobert”.

Auch in der Schweiz toben ESG-Machtkämpfe

In der Schweiz werden ähnliche Debatten geführt, wenn sie auch keine internationalen Schlagzeilen generieren. Die Aargauische Kantonalbank (AKB) sorgte für einen politischen Sturm, als sie Anfang Jahr die Kreditbestimmungen änderte. Gemäss den neuen ESG-Vorschriften wurden Schnapsbrennereien, Tabakhändler, Casinos, Waffenhersteller und Betreiber von Kernkraftwerken von der Kreditvergabe ausgeschlossen.

Die SVP lief gegen die neuen Bestimmungen Sturm und witterte eine linke Gesinnung hinter dem Kreditverbot. "Die AKB vertritt mit ihrer Strategie eine einseitige politische Ideologie", sagte SVP-Nationalrat Thomas Burgherr. Dass eine Kantonalbank ausgerechnet im bürgerlich-konservativen Aargau eine progressive Kreditvergabepolitik einführt, ist erstaunlich. Weniger erstaunlich ist, dass die “woke” Geschäftspolitik ins Visier rechter Politiker kam.

Nach wenigen Wochen krebste die Führung der AKB zurück und veränderte die Vergabekriterien wieder. Zwar werden Alkoholproduzenten, Casinos, Waffenhändler und andere Unternehmen mit einer sogenannten “ESG-Senitivität” nicht mehr ausgeschlossen, doch sie müssen jetzt einen Aufpreis auf ihren Krediten bezahlen. Wie gross dieser Zinsaufschlag ist, will eine Sprecherin gegenüber Tippinpont nicht verraten.

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