Amanda Young
Im Interview erklärt die Sustainable-Finance-Chefin des britischen Asset-Managers Abrdn, warum sie Mühe hat mit Bezeichnungen wie ESG. Und sie sagt auch, warum Öl- und Waffen-Firmen in einem nachhaltigen Portfolio nichts zu suchen haben.
2. November 2022 • Beat Schmid

Nächste Woche treffen sich Politiker und Vertreter der Finanzbranche in Ägypten zur COP27 und reden über den Klimawandel und was man dagegen tun kann. Amanda Young ist skeptisch, dass die Klimaziele noch erreicht werden können. "Wir müssen ehrlich sein, im Moment sind wir nicht genügend schnell unterwegs, um Netto-Null zu erreichen", sagt sie.

Sie sieht vor allem die Politik in der Pflicht. Die Finanzindustrie könne zwar einen wichtigen Beitrag leisten, indem wir das Kapital an die richtigen Orte lenken, sagt sie. "Aber das können wir nur tun, wenn ein regulatorisches Umfeld besteht, das uns die Leitplanken vorgibt."

Tippinpoint: Bei Anlegerinnen und Anlegern, aber auch bei Finanzdienstleistern herrscht eine grosse Konfusion, was nachhaltig, sustainable oder ESG bedeutet. Wie nehmen Sie dieses Durcheinander wahr?

Amanda Young: Sie haben recht, es herrscht ein totales Durcheinander. Gefühlt habe ich die letzten zehn Jahre meinem Umfeld zu erklären versucht, was ESG ist und dass es eben nicht eine einzige Bedeutung hat. Wenn Sie mich fragen, ist ESG ohnehin ein ziemlich unsinniges Akronym. Was bedeutet denn schon Umwelt, Soziales, Governance? Es geht um mehrere Einflussfaktoren, auf die man schauen muss.

Welche Einflussfaktoren meinen Sie?

Es gibt zwei völlig unterschiedliche Perspektiven. Zum einen gibt es die Input-Sicht: Dabei geht es darum, Faktoren im Blick zu haben, welche die langfristige Wertentwicklung einer Finanzanlage beeinflussen könnten. Die andere Sicht ist Output- orientiert: Wie können Anlegerinnen und Anleger diese Faktoren nutzen, um ein nachhaltig strukturiertes Portfolio zu erstellen? Wenn man nur auf die Integration schaut – also die Input-Optik einnimmt –, geht es vor allem um die Risiken von Finanzanlagen. Output-orientierte Investoren hingegen wollen nachhaltige Resultate aus der Art und Weise, wie ihre Investitionen verwaltet werden, erzielen. Das ist etwas ganz anderes.

Auch bei den Daten herrscht ein Durcheinander. Fast nichts ist standardisiert. Da besteht die Gefahr, dass sich Anleger getäuscht fühlen.

Die Daten sind tatsächlich eine grosse Herausforderung. Klar, zunächst ist es gut, dass wir Daten haben, die es früher nicht gab. Wie viel CO₂ etwa ein Unternehmen mit seiner Wagenflotte ausstösst. Doch wie bringt man diese Daten in einen Investitionsprozess hinein? Hier beginnen die Probleme.

Welche?

Je nach Anbieter sind die Daten und Methoden völlig unterschiedlich. Was bei einem Datenprovider grün aufleuchtet, blickt bei einem anderen rot. Ich habe ein gewisses Problem damit, dass Datenanbieter gewissermassen Definitionsmacht darüber haben, was Nachhaltigkeit bedeutet, und dennoch nicht reguliert sind. Wir als Finanzdienstleister sind reguliert, unsere Kunden sind reguliert, aber Datenanbieter sind es nicht. Und doch haben sie die Möglichkeit, Kapital in eine bestimmte Richtung zu lenken. Ich finde das problematisch.

Was sollte man tun?

Aus diesem Grund spielt aktives Management von Anlagen eine wichtige Rolle. Wir können die Daten nehmen und sie durch unsere eigene Brille betrachten, analysieren und gewichten. Das funktioniert in aktiv verwalteten Fonds und Mandaten, in passiven jedoch nicht.
Amanda Young
Amanda Young ist Chief Sustainability Officer bei Abrdn, dem britischen Asset-Manager. Zuvor war Amanda in verschiedenen Positionen bei Newton Investment Management, CCLA Investment Management und Rabobank International. Ihren ersten Job hatte sie bei der Church of England. Young, die Psychologie studierte, leitete eine Arbeitsgruppe für die Taskforce der britischen Regierung zu Investitionen mit sozialer Wirkung und ist Vorstandsmitglied des Fonds SIS Ventures von Social Investment Scotland. Sie steht dem FTSE Russell ESG Advisory Committee vor und ist stellvertretende Vorsitzende des Sustainability and Responsible Investment Committee der Investment Association. Sie war sechs Jahre lang Mitglied des Vorstands der UK Sustainable Investment and Finance Association (UKSIF). Seit 2017 wird sie von "Financial News" zu den "Top 100 Most Influential Women" der europäischen Finanzindustrie gezählt.

Die Finanzbranche ist anfällig für Greenwashing. Was kann man dagegen tun?

Der Grundsatz lautet: Das, was man verspricht, muss man auch halten können. Man muss es sogar beweisen können. Ich erinnere mich noch gut daran, als vor ein paar Jahren meine Kollegen von der Marketingabteilung zu mir kamen und mich fragten, ob man dieses oder jenes als Produkt als nachhaltig vermarkten könne. Ich habe immer gesagt: Das geht nur, wenn wir das auch beweisen können. Die ganze Debatte um Greenwashing hat insofern etwas Positives, als ich jetzt mehr Einfluss darauf habe, dass hohe Standards für Nachhaltigkeitsfonds gelten.

Haben Sie bei Abrdn auch Ihre Strukturen und Prozesse angepasst?

Ja, wir haben in den letzten zwei Jahren Prozesse implementiert, die eine unabhängige Kontrolle über unser nachhaltiges Produktangebot garantieren. Dazu haben wir bei Abrdn die Sustainable Investment Standards Group aufgebaut, die unabhängig vom Portfoliomanagement die Produkte und Mandate auf ihre Nachhaltigkeit hin überprüft

Vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine wurden viele Gewissheiten weggefegt. Waffenfirmen gelten plötzlich als nachhaltig, weil Waffen den Frieden sichern können. Wie halten es Sie mit Waffenaktien?

Als ich vor 22 Jahren meinen ersten Job bei der Church of England annahm, führten wir lange Diskussionen über die Armee. Man weiss das vielleicht nicht, aber es gibt viele Geistliche, die in der Armee dienen. Ich bin grundsätzlich der gleichen Meinung wie die Kirche: Jedes Land hat das Recht, sich zu verteidigen.

Aber heisst das jetzt, dass man in Waffenfirmen investieren sollte?

Für Nachhaltigkeitsfonds ist meine Antwort ein klares: Nein. Denn die meisten Rüstungsfirmen haben keine Kontrolle darüber, wohin ihr Rüstungsmaterial geliefert wird. Man kann also nie ausschliessen, dass die Waffen eines Landes gegen sich selbst gerichtet werden. Für Mainstream-Fonds sollten die gesellschaftlichen Risiken der Verteidigungsindustrie als Teil der ESG-Integration betrachtet werden und nicht als Ausschlusskriterium für diese Fonds.

Wie sieht es mit Investitionen in Öl- und Gasförderunternehmen aus? Auch die scheinen wieder salonfähig zu werden. Atomkraft wurde schon vor dem Krieg als nachhaltig eingestuft. Wie problematisch sind solche Schwenks für Anbieter von ESG-Produkten?

Selbstverständlich ist das ein Problem. Auch hier hängt es von der Art des Fonds ab, den Sie verwalten. Die meisten Nachhaltigkeitsfonds meiden kohlenstoffintensive Branchen, aber nicht alle. Einige Fonds suchen nach Umstellungsunternehmen, und die Anleger sind sich bewusst, dass Öl- und Gasunternehmen oft grosse Akteure im Bereich der erneuerbaren Energien sind. Die Sache ist also komplex.

Was bedeutet für Sie Nachhaltigkeit?

Meine persönliche Meinung ist: Öl- und Gas-Firmen gehören nicht in ein Depot, das ich als nachhaltig bezeichnen würde.

Glauben Sie, dass die Pariser Klimaziele noch erreicht werden können? Die Ziele sehen vor, die Erderwärmung auf unter zwei Grad zu begrenzen.

Nur wenn die Regierungen die richtigen Verpflichtungen eingehen, um Netto-Null zu erreichen. Das müssen wir erst noch sehen. Wir müssen ehrlich sein, im Moment sind wir nicht genügend schnell unterwegs, um die Klimaziele noch zu erreichen.

Macht die Finanzindustrie zu wenig?

Es ist nicht der Job der Finanzindustrie, das Klima zu retten. Aber wir können einen wichtigen Beitrag leisten, indem wir das Kapital an die richtigen Orte lenken. Aber das können wir nur tun, wenn ein regulatorisches Umfeld besteht, das uns die Leitplanken vorgibt.

Wieso?

Das Problem ist: Wir haben eine treuhänderische Pflicht gegenüber unseren Kunden. Wenn wir keine klaren politischen Vorgaben haben, können wir die Kunden nicht in grüne Investments treiben. Dann würden wir uns verhalten wie Umweltaktivisten. Das können wir nicht, weil das der treuhänderischen Pflicht zuwiderläuft. Gibt es hingegen klare Regeln von der Politik, müssen sich alle daran halten. Wir fordern die Regierungen häufig auf, mehr Massnahmen gegen den Klimawandel zu ergreifen, da wir dies für richtig halten und der Klimawandel für viele unserer Investitionen ein grosses Risiko darstellt.