Analyse
FTX schuf aus einem Kundenloyalitätsprogramm eine digitale Währung – und scheiterte damit kolossal. Ein ähnlich gefährliches Modell verfolgt auch der Marktführer Binance oder die Schweizer Smart Valor.
18. November 2022 • Werner Grundlehner

Klar, man könnte seine Verbindlichkeiten auch mit "Miles & More"-Guthaben begleichen, wenn der Gläubiger damit einverstanden ist. Würde sich die Vielflieger-Meilen aber zu einem breitgenutzten Zahlungsmittel entwickeln, gäbe es Probleme mit Haftung, Deckung und Konvertibilität dieser "Währung". Genau das musste die Krypto-Börse FTX auf die harte Tour lernen.

Der Neuling und Überflieger unter den Krypto-Börsen lancierte den FTT (FTX-Token). Dabei handelt es sich um ein Loyalitätsprogramm für Kunden. Wer diese börseneigenen Abrechnungseinheit verwendet, handelt zu günstigeren Konditionen. "Diese Token werden vom Anbieter ohne Mining emittiert und haben in der Token-Ökonomie eigentlich einen Wert von 0", sagt Daniel Diemers, Partner der SNGLR Group, einer Beratungs- und Investmentfirma für neue Technologien.

Doch der Token verliess das FTX-Ökosystem. Er wurde auf anderen Börsen und externen Wallets verwahrt und gehandelt. Es entstand eine Art Kryptowährung. Daniel Diemers beschreibt die "Fluidität" des Tokens: Wenn der Token wie im Fall von FTT für Securities Lending und Leverage-Geschäfte eingesetzt wird und implizit mit dem Geschäftserfolg der Börse gekoppelt ist, wird daraus ein Security Token. Damit schaffen sich die Börsen neue Einnahmequellen neben den traditionellen Geld-Brief-Spreads, Börsen- und Verwahrungsgebühren aus der Handelstätigkeit.

Schwammige Token-Kategorien

Bei derartigen Token, die die Börsenteilnehmer mit Discount zu mehr Handelstätigkeit verleiten wollen, verschwimmen die Grenzen zwischen Utility- und Security-Token, die ganze Token-Ökonomie wird vereinfachend unter dem Begriff "Krypto-Währungen" zusammengefasst. Bei dieser wenig fassbaren Struktur sind weitere Probleme und eine Klärung durch den Gesetzgeber absehbar. Auch die Regulierung solch schwammiger Konstrukte ist schwierig.

"Auch wenn ein firmeneigener Utility-Token nicht zwingend etwas Schlechtes sein muss und es durchaus legitime Gründe für das Ausstellen eines solchen Gutscheins geben mag, bin ich jeweils skeptisch, da die Transparenz bei diesen Gutscheinen nicht immer dem gewünschten Mass entspricht", sagt Fabian Schär, Professor für Blockchain und Krypto-Assets an der Universität Basel. Richtig problematisch werde es aber dann, wenn der eigene Token als Sicherheit auf die eigene Bilanz genommen und als liquides und wertstabiles Substitut für andere Sicherheiten angesehen werde. Mit den ersten Zweifeln an Stabilität und Liquidität von FTX geriet die Krypto-Börse in eine Abwärtsspirale. FTX-Gründer Sam Bankman-Fried (SBF) deckte etwa Milliardenverluste bei der Schwestergesellschaft Alameda mit Kundengeldern von FTX, zuvor hatte er damit bereits angeschlagene Konkurrenten aus dem Krypto-Segment gerettet.

"Ökonomisch betrachtet ist es äusserst problematisch ein selbstausgestelltes Asset, dessen Preis eine hohe Korrelation mit der eigenen Reputation aufweist, als Sicherheit für die eigenen Zahlungsverpflichtungen zu halten", führt Fabian Schär aus. Szenarien mit Bank-Run-Charakter entstünden insbesondere dann, wenn das Vertrauen in den jeweiligen Dienstleister gering sei. Genau in solchen Szenarien komme auch der eigene Token unter Druck. Das habe aber weniger etwas mit dem Token an sich zu tun, sondern mit einem fragwürdigen Risikomanagement oder betrügerischen Absichten. FTX war der Neuling unter den Krypto-Börsen. Innerhalb von zweieinhalb Jahren wurde das System extrem aufgeblasen, bis es implodierte.

Gutscheine oder neutrale Kryptoassets?

Der FTX-Token ist keine Krypto-Währung, sondern ein Gutschein. Die wichtigsten Fragen zur Unterscheidung eines sogenannten nativen Protokoll-Assets wie zum Beispiel Bitcoin und eines zentralisierten Gutscheins sind nach Ansicht des Basler Professors die Folgenden:

- Handelt es sich um einen Gutschein für eine zentralisierte Dienstleistung, die durch den Betreiber nach Belieben modifiziert oder angepasst werden könnte?

- Hat jemand spezielle Privilegien?

- Ist die Token-Menge durch eine zentrale Instanz anpassbar? Wenn man nur eine dieser Fragen bejahen müsse, sei dies ein starkes Indiz, dass es sich um einen firmeneigenen Token handle.

FTX war eine Binance-Kopie

Der FTX-Token ist aber kein Einzelfall. Man könnte sagen, SBF habe sich die Grundidee beim Marktführer Binance abgeschaut. Daniel Diemers bezeichnet das Vorgehen des asiatischen Marktführers als "ziemlich unverfroren". Das 2017 vom chinesisch-kanadischen Geschäftsmann Changpeng Zhao (CZ) gegründete Unternehmen kopierte eins zu eins Ethereum-Blockchain und brachte diese Blockchain auf eigene Server. Die Anzahl Server (Nodes) auf denen eine Blockchain lagert, definieren deren Stabilität und Dezentralität. Wenn eine Blockchain auf einem Node basiert, ist sie zentralisiert. Ab mehreren Servern gilt die Blockchain als dezentral. Je mehr Nodes es gibt, desto stabiler ist das System.

Das Bitcoin-Netzwerk sichern aktuell rund 10200 sogenannte Full Nodes ab. Auf jedem einzelnen Server ist die gesamte Blockchain gespeichert. Die Binance-Blockchain ist auf 50 Nodes verteilt, wobei 48 im Besitz des Gründers CZ sind. Ein Full Node validiert sämtliche Transaktionen und überprüft dadurch die Miner; er hat aber keinen Einfluss auf die Buchführung. Ein Konsensknoten ist ein Full Node der zusätzlich zur Buchführung beiträgt.

"Der Utility Token kriegt Flügel, je grösser die Gemeinschaft und je umfangreicher das Clubprogramm wird", sagt Daniel Diemers. Bei der Binance-Währung BNB erhalten die Mitglieder Zusatzleistungen und Goodies wie etwa sogenannte NFT Drops. Der Token von Binance, der BNB, wird auch nicht geschürft (mining), sondern ist mit seiner Maximalversorgung von 200 Millionen Stück im Juli 2017 durch Binance erschaffen worden. Die Krypto-Börse selbst erhielt 40 Prozent der Versorgung. Entsprechend sind alle BNB, die jemals existieren können, bereits im Umlauf. Der BNB figuriert mit einer Marktkapitalisierung von aktuell 42 Milliarden an fünfter Stelle der Kryptowährungen. Wenn Binance "k.o. gehen" würde, leidet gemäss Daniel Diemers vor allem Asien. Im Westen haben die Krypto-Börse und ihre Währung eine relativ kleine Verbreitung.

Südkorea wirft ein Auge auf Smart Valor

Doch zahlreiche kleinere und weniger bekannte Krypto-Börsen und -Dienstleister setzen ebenfalls auf Gutscheine respektive Loyalitätstoken wie FTX. Dazu gehört auch die Schweizer Krypto-Börse Smart Valor der umtriebigen Olga Feldmeier. Das könnte nach der Pleite von SBF die Regulatoren hellhörig machen. Medienberichten zufolge werden in Südkorea nun verschiedene Token von der Aufsicht untersucht, darunter auch der Token von Smart Valor.

Wichtig ist dabei festzuhalten, mit dem FTX geht nicht die Blockchain-Technologie unter und auch nicht dezentrale Kryptowährungen wie der Bitcoin oder Ethereum. Professor Schär betont, wie wichtig es sei, folgenden Punkt festzuhalten: "Bei FTX handelt es sich um einen zentralisierten Finanzintermediär der mutmasslich seinen regulatorischen und aufsichtsrechtlichen Verpflichtungen nicht nachgekommen ist".

Er empfinde es als störend, dass nun vermehrt Meinungen zu hören sind, dass "Krypto" – und nicht bloss die zentralisierten Verwahrungsdienstleister – strenger reguliert werden müssen. Das sei insbesondere deswegen seltsam, weil öffentliche Blockchains genau diesen Problemen entgegenwirken können und SBF einer der schärfsten Kritiker dieser Transparenz und von offenen Protokollen war. "Wenn eine Bank Kundengelder verliert, wird deswegen auch nicht das Geld an sich in Frage gestellt", sagt Schär dazu. Bei Krypto-Assets werde da leider zu wenig differenziert.

Bei den über 20 000 Währungen, die auf coinmarketcap.com geführt werden, handelt es sich um eine sehr heterogene Zusammenstellung von Coins. Neben den Marktführern Bitcoin und Ethereum etwa Stablecoins, aber eben auch Utility- und Security-Token. Experten haben immer prognostiziert, dass ein Grossteil dieser "Währungen" wieder verschwinden werde. Das geschieht momentan gerade unter grossen Wertverlusten für alle Coins. Auch viele Gutschein-Tokens und zentralisierte Börsen werden wieder verschwinden. Denn niemand weiss genau, welche Krypto-Börsen und Dienstleister mit welchen anderen Krypto-Assets gedeckt sind und wo Leverage-Geschäfte getätigt wurden und als Sicherheit wiederum Token und Coins dienen.