Gastkommentar
Eigentlich müssten erneuerbare Energien stark vom gestiegen Ölpreis profitieren. Doch das tun sie nicht. Warum ist das so?
15. Juni 2022 • Nicolas Mougeot

Der Ölpreis bricht sämtliche Rekorde und hat sich seit März weit über der Marke von 100 US-Dollar pro Barrell eingependelt. Theoretisch spricht deshalb alles für erneuerbare Energien. In der Praxis scheinen die höheren Energiepreise jedoch keine Auswirkung auf die Bewertungen der in diesem Sektor tätigen Unternehmen zu haben. Wie lässt sich dies erklären?

Die Bewertung von Firmen, die im Bereich der erneuerbaren Energien tätig sind, hängt von einigen Faktoren ab, die stark von der Inflation beeinflusst werden. Dazu gehören insbesondere die Energiepreise sowie die Kosten für Investitionsausgaben und das benötigte Kapital. Aktuell gilt der Anstieg der Energiepreise als Haupttreiber der gemessenen Inflation. Lag der Terminpreis für die Grundlastversorgung in Deutschland im April 2019 noch bei 40 Euro pro Megawattstunde (EUR/MWh), so stieg er in den zwei letzten Jahren auf 200 EUR/MWh mit einem Peak von EUR 500/MWh zu Beginn der russischen Invasion in der Ukraine.

Gefahren für kurzfristige Investitionsausgaben

Produzenten von erneuerbaren Energien schliessen üblicherweise für etwa zwei Drittel ihrer Produktion sogenannte Stromkaufvereinbarungen (Power Purchase Agreements – PPA) ab. Solche PPA haben lange Laufzeiten von zum Teil bis zu 20 Jahren. Aufgrund des aktuellen Umfelds können die Energieerzeuger zwar für neue Abschlüsse einen besseren Preis erzielen. Dies gilt jedoch nicht für ältere Verträge, die zur Abfederung der Volatilität vielfach auch Fixpreise oder Ober- und Untergrenzen beinhalten. Man geht deshalb davon aus, dass die Branche ihre Preise im Schnitt nur um etwa 10 EUR/MWh wird anheben können – ausgehend von einem Niveau von 40 EUR/MWh.

Die steigenden Rohstoffpreise und Transportkosten könnten sich zudem negativ auf den Bau von Windrädern auswirken. Auch die vom Westen verhängten Sanktionen gegen Russland sowie die Auswirkungen der chinesischen Zero-Covid-Politik auf die Lieferketten machen sich langsam bemerkbar. Etwas besser sieht die Situation für die Hersteller von Solarpaneelen aus, hängen doch deren Produktionskosten stark von den Preisen für monokristalline Zellen ab, welche sich als relativ stabil erweisen.

Höhere Kapitalkosten

Das Geschäftsmodell der meisten Versorger, die sich im Besitz der öffentlichen Hand befinden, besteht darin, mit der Erzeugung von Energie einen regelmässigen Cashflow zu generieren, der es erlaubt, eine meist sehr hohe Verschuldung zu finanzieren. Der Anstieg der Inflation könnte aber auch dazu führen, dass die Zentralbanken ihre Geldpolitik straffen, was wiederum zu höheren Zinsen und damit in höheren Kapitalkosten für die Unternehmen resultiert.

Unternehmen, die auf die Produktion von sauberer Energie spezialisierten sind, spüren also die Auswirkungen der höheren Kosten für Kapital und Investitionen wesentlich direkter als die durch den Anstieg der Energiepreise verursachten Entwicklungen. So oder so, die höheren Energiepreise werden auf die lange Frist die Situation dieser Unternehmen verbessern. Investoren und Anleger müssen sich jedoch noch in etwas Geduld üben.

Der Autor
Nicolas Mougeot ist Head of Global Trends and ESG Advisory bei
CA Indosuez Wealth Management