Neue Berichterstattungsregeln
Spätestens nächstes Jahr müssen Unternehmen ihren CO2-Ausstoss messen können. Jetzt zeigt eine Umfrage: Sie sind darauf überhaupt nicht vorbereitet.
3. August 2022 • Beat Schmid

In der Woche vom 1. bis 7. August publiziert Tippinpoint eine Serie von Beiträgen, die auf besonders grosses Interesse gestossen sind. Der vorliegende Artikel erschien ursprünglich am 17. Januar 2022.

Wie viele Tonnen Kohlendioxid stösst meine Firma aus? Diese Frage müssen Chefinnen und Chefs spätestens 2023 beantworten können. Das verlangt ein neues Gesetz, das nächstes Jahr zur Anwendung kommt. Dabei handelt es sich um den indirekten Gegenvorschlag zur Konzernverantwortungsinitiative (KVI), die im Herbst 2020 am Ständemehr scheiterte.

Der Gegenvorschlag verlangt, dass Firmen neben der finanziellen Berichterstattung auch Rechenschaft über «nichtfinanzielle Belange» ablegen müssen. Derzeit wird noch an den Umsetzungsbestimmungen gefeilt. Im Frühling sollen diese in die Vernehmlassung geschickt werden, so dass die Verordnung Mitte Jahr in Kraft treten kann und Unternehmen ab 2023 entsprechend rapportieren müssen.

Vom «zahnlosen Papiertiger» zum Regulierungsmonster

Der Gegenvorschlag, der von den Befürworter der KVI «zahnloser Papiertiger» verniedlicht wurde, entpuppt sich in der Umsetzung als kleines Regulierungsmonster. Besonders schwierig und aufwendig: Geschäftsleitungsmitglieder müssen nachvollziehbar darlegen können, wie sie für ihr Unternehmen bis 2050 CO2-Neutralität erreichen wollen. Ebenfalls Pflicht: Sie müssen ausweisen, wie viel Treibhausgase in einem Geschäftsjahr ausgestossen werden.

Jetzt zeigt sich: Die allermeisten Firmen sind überhaupt nicht vorbereitet auf die neuen Vorschriften. Das Beratungsunternehmens PWC hat im Rahmen einer weltweit durchgeführten CEO-Studie 100 Schweizer Firmenchefs dazu befragt. Die Ergebnisse sind ernüchternd: 45 Prozent der befragten Firmen sind bis heute keine CO2-Neutralitätsverpflichtung eingegangen und 55 Prozent haben kein Netto-Null-Ziel vorgesehen. Zwei Drittel der Befragten glaubt nicht, CO2-Neutralität überhaupt erfüllen zu können. Ebenso viele meinen, dass sie sich eine Netto-Null-Verpflichtung finanziell nicht leisten können.

In Bezug auf das neue Gesetz besonders relevant: 91 Prozent der Befragten gab an, ihr Unternehmen könne Treibhausgase derzeit nicht messen. Andreas Staubli, CEO von PwC-Schweiz, überraschen die Ergebnisse nicht. «Die Emissionen zu messen ist eine riesige Herausforderung», sagt er. Es sei zwar relativ einfach, den CO2-Ausstoss für das Heizen eines Bürogebäudes zu berechnen. Doch das Gesetz verlange wesentlich mehr.

Fachleute sprechen von drei Ebenen, sogenannten «Scopes». Auf Ebene eins und zwei werden Emissionen erhoben, die direkt vom Unternehmen ausgestossen werden. Der Scope 3 umfasst vor- und nachgelagerte Emissionen. Darunter fällt etwa CO2-Fussabdruck von Produkten oder Dienstleistungen, die ein Unternehmen irgendwo auf der Welt einkauft.

Nur 250 Firmen betroffen – oder doch viel mehr?

Wie viele Firmen sind betroffen? Unter das Gesetz fallen Gesellschaften des «öffentlichen Interesses» (Publikumsgesellschaften und Gesellschaften des Finanzsektors), die mindestens 500 Personen beschäftigen und 40 Millionen Franken Umsatz erzielen. Laut Branchenexperten dürfte es rund 250 Unternehmen sein.

Das Staatssekretariat für Internationale Finanzfragen ist derzeit damit beschäftigt, die genaue Zahl der betroffenen Firmen zu ermitteln. Auf Anfrage will sich ein Sprecher nicht zu den konkreten Zahlen äussern. Gemäss Bundesamt für Statistik (BFS) gibt es in der Schweiz 693 Unternehmen mit mindestens 500 Vollzeitstellen. Da die Vorgaben kumulativ gelten und der Anwendungsbereich sich auf börsenkotierte Firmen und Finanzinstitute beschränke, sei die Anzahl der betroffenen Unternehmen «bedeutend kleiner», heisst es beim SIF.

Andreas Staubli von PWC ist jedoch überzeugt, dass letztlich wesentlich mehr Firmen die Regeln werden anwenden müssen. «Ein Unternehmen, das unter das Gesetz fällt, wird Lieferanten bevorzugen, die ebenfalls ihre Treibhausgase messen und ein Netto-Null-Ziel verfolgen», sagt er. Das werde dazu führen, dass auch kleinere Unternehmen wohl oder übel die Regeln anwenden werden.

Verwaltungsräte stehen in der Pflicht

Das neue Gesetz wird die Kosten der Berichterstattung erhöhen. Davon müsse man ausgehen, sagt Marcel Meyer, der bei Deloitte den Bereich Nachhaltigkeit leitet. In einem grösseren Unternehmen hätten bis anhin vielleicht drei bis fünf Personen die Nachhaltigkeitsdaten von Hand in eine Excel-Tabelle eingetragen. Das wird Zukunft nicht mehr reichen, ist Meyer überzeugt.

Meyer verweist auf einen weiteren Punkt, der vor allem bei Verwaltungsräten für Zündstoff sorgt. Das Gesetz verlangt, dass das oberste Leitungsorgan die Rechenschaftsberichte unterschreiben muss. Doch kein Verwaltungsrat unterschreibt wohl freiwillig ein öffentliches Dokument, das vorher nicht geprüft wurde. Deshalb ist zu erwarten, dass auch die «nichtfinanzielle» Berichterstattung einen formellen Prüfprozess durchlaufen werde, obschon dies vom Gesetzgeber gar nicht vorgesehen ist.

Druck kommt auch von den Aktionären. Diese Woche hat die Schweizer Aktionärsvertreterin Actares ihre Abstimmungskriterien verschärft. Damit die Schweizer Wirtschaft den «nötigen Schub für die Erfüllung der Pariser Klimaziele» erhält, verlangt die Gruppierung «ab sofort», dass börsenkotierte Unternehmen nicht nur über ihre Klimaschutzaktivitäten berichten, sondern sich auch das Ziel setzen, bis 2050 klimaneutral zu sein. Die Jahresberichterstattung müsse eine Roadmap samt Zwischenziele bis 2050 enthalten. Wenn ein Unternehmen dies nicht leisten könne, werde Actares den Jahresbericht ablehnen und die Decharge verweigern.

Deutschland löst China als Wachstumsmotor ab
China ist nicht mehr Wachstumsmotor von Schweizer Firmen. Laut der jüngsten CEO-Studie von PWC glauben nur noch 27 Prozent der befragten CEOs, dass von dort das grösste Umsatzwachstum kommt. Stark zugelegt hat Deutschland: Jeder zweite CEO glaubt, dass Geschäfte mit Deutschland am stärksten wachsen werden. Nach wie vor hoch im Kurs bleiben die USA. Deutschland sei wie vor ein führender Industriestandort, der eine “herausragende Rolle bei der Transformation der Geschäftsmodelle in Richtung Nachhaltigkeit” spielen werde, erklärt PWC-Schweiz-Chef Andreas Staubli. China hingegen würde sich zunehmend “abschotten”. Hinzu komme, dass Unternehmen aufgrund der Pandemie ihre Lieferketten angepasst hätten, um weniger abhängig von China zu sein.